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Aktuelle Meldung



21.10.2011 - Kategorie: ELKRAS, LD online

LD online: »Für welchen Weg entscheidest Du Dich?«




Eine Reise zur Evangelisch-Lutherische Kirche in der Kirgisischen Republik

 

von Rainer Stahl

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 4/2011



LD 4/2001

Mit Ernst bei der Sache, mit Spaß bei der Freizeit: Die Unterstützung des Jugendlagers der kirgisischen Kirche ist eine Investition in die Zukunft. – Alle Bilder: MLB

 

Ehepaar Eichholz bei einer Rast unterhalb des Pik Putina.

Markt in Jalal-Abad

Zum Auftakt meiner Reise konnte ich über drei Tage am Jugendlager der Kirche in einem Ferien- und Jugendgelände am Nordufer des Sees Issyk-Kul auf etwa 1500 m Höhe im Nordosten des Landes teilnehmen. Die Kirche hatte für über eine Woche Bungalows und Zimmer im Ferienlager »Maäk« (»Leuchtturm«) für über 100 Jugendliche und die Betreuenden gemietet. Jeden Vormittag fanden thematische Veranstaltungen statt – differenziert für die Jüngeren und für die Älteren. Nach dem Mittagessen und einer Ruhephase waren sportliche Betätigungen auf der Tagesordnung: Baden im See, Fußball, Volleyball. Und abends gab es wieder Vortragsveranstaltungen, das Einstudieren von Liedern und Programmen. Ich habe einen Vortrag von Bischof Alfred Eichholz zum Thema »Vyborò« (»Entscheidung«) miterlebt, in dem die Jugendlichen zu entschiedenem Bekenntnis für Christus im täglichen Leben ermuntert wurden, das deshalb möglich wird, weil sich Gott schon für uns entschieden hat. Ich selbst war gebeten worden, zum Thema »Die Bedeutung der Jugend für unsere Kirche« zu sprechen, und habe unter anderem auf Folgendes hingewiesen:

 

»Die Arbeit mit Euch weist uns auf das eigentliche Geheimnis kirchlichen Lebens und Arbeitens hin: Wir dienen nur. Wir bereiten nur vor. Wir regen nur an. Wir weisen nur hin. Wirken aber tut der Heilige Geist in Euch. Und nur, wenn der Heilige Geist Euch verändert und erneuert, dann werdet Ihr zum Schatz unserer Kirche – wie ganz viele alte Menschen schon Schätze unserer Kirche sind!

 

1959 hat die Sowjetunion der UNO das Standbild eines Mannes geschenkt, der ein Schwert zu einem Pflug umschmiedet – geschaffen von Jewgenij Wuchetich. Noch heute steht es – hoffe ich – in der Nähe des UNO-Gebäudes in New York. Die Bolschewisten haben aber die biblische Quelle für dieses Bild nicht angegeben und auch unerlaubt verändert. Auf dem Sockel des Bildwerkes steht: ›We shall beat our swords into plowshares‹ (›Wir werden/sollen unsere Schwerter in Pflugscharen umschmieden‹). Und damit wurden gezielt der göttliche Zusammenhang und die göttliche Initiative verdrängt: ›Und er [nämlich: Gott] wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen‹ (Jesaja 2,4; vgl. Micha 4,3).

 

Zugleich aber haben die damals Verantwortlichen – unbewusst – die Grundlage für eine eigenständige Rezeption in der DDR viele Jahre später gelegt: In der sächsischen Landeskirche wurden Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Stoffstücke mit dem Aufdruck dieses Standbildes hergestellt, die an Jackenärmeln angenäht werden konnten und mit denen die jugendlichen Träger ihren eigenen, religiös begründeten Willen zum Frieden demonstrierten. Junge Menschen – viele von ihnen waren Gemeindeglieder unserer Kirchen – lehrten hier den Mut zum Frieden!«

 

Am letzten Vormittag mündete das Lager in eine begeisternde Vorstellung jedes der verschiedenen Zimmer, die Namen hatten wie »Demut«, »Liebe«, »Hoffnung«, »Glaube«, »Geduld« und andere, bei der das Thema der ganzen Tage aufgenommen und konkretisiert wurde: »Entscheidung – Für welchen Weg entscheidest Du Dich?« Und aus dieser Gemeinschaft heraus habe ich dann verschiedene Gemeinden besuchen können – und immer wieder schon Bekannte getroffen. Das war ein besonderes Gefühl und Erleben. Ich kam an Orte, von deren Existenz ich vielleicht vorher noch nie etwas gehört hatte, aber ich konnte immer wieder auf einige in den Gemeinden zugehen und wirklich »Hallo! Guten Tag!« sagen, denn ich hatte sie schon kennen gelernt – den Pfarrer, die Jugendmitarbeiterin, die Mitglieder des Jugendchores. Und bei diesen Wiederbegegnungen habe ich dann viel Neues gelernt:

 

In der Gemeinde Bischkek, in der Hauptstadt des Landes, wird im Gottesdienst auch ein kirgisisches Lied vorgetragen. Dadurch wird deutlich, wie wichtig es ist, dass es gelingt, die Kirgisen in ihrer eigenen Sprache anzusprechen und für sie und auf dem Weg ihrer musikalischen Traditionen Lieder zu entwickeln, mit denen der Glaube an Christus besungen werden kann. Am Rande des Jugendlagers am Issyk-Kul habe ich mitbekommen, dass zur Zeit daran gearbeitet wird, den Gottesdienst auch in kirgisischer Sprache zu erarbeiten – die Liturgie, die Gebete, die Lieder. Bischof Eichholz hat mir erzählt, dass die alte deutschsprachige Tradition im Grund verlorengegangen ist. Die meisten deutschstämmigen Menschen sind ausgewandert. Selbst die russische Sprachtradition allein reicht nicht mehr aus. Als missionarische Kirche muss sie sich auch der Mehrheitsbevölkerung des Landes öffnen. Und sie öffnet sich auch den Kurden, die in Kirgistan leben. So entsteht zur Zeit ein Bethaus für die erste kurdische Gemeinde in der Kirche – im Dorf Wassiljewka.

 

Südwestlich von Bischkek liegt eine große Haftanstalt, in der viele zu langen Strafen verurteilte Schwerverbrecher einsitzen. Ich lerne, dass in Kirgistan »lebenslänglich« wirklich lebenslänglich heißt. Selbst wenn die Gefangenen schwer krank werden – psychisch erkranken, schwere Verletzungen erleiden, so dass Gliedmaßen amputiert werden müssen –, bleiben sie im Gefängnis. Die Kirche ist mit der Gefängnisleitung im guten Kontakt, so dass schon mehrmals Besuche möglich waren. Zu Ostern konnte sie mit einem Chor kommen und für alle Inhaftierte singen, kleine Geschenke mitbringen, die Kranken in der Krankenabteilung besuchen. Ein inzwischen entlassener früherer Häftling ist Gemeindeglied geworden und leitete im Gottesdienst die Fürbitten vom Altar aus. Mir wurde von einem Prediger der Kirche, der mit mir zusammen an einem freien Tag am Pik Putina gewandert war (bis über 3000 m über dem Meer), das Modell einer wunderbar gearbeiteten kleinen Jazzgitarre geschenkt. Sie ist von einem der Häftlinge gearbeitet, von einem zum Tode Verurteilten, der zur Zeit als lebenslänglich Inhaftierter einsitzt. Dies kleine Modell ist ein ganz besonderer Schatz. Denn es ist Ausdruck des Lebenswillens und des Willens zum Sinn eines Menschen, der eine Last trägt, die ich mir nicht vorstellen kann. Und er ist auch durch die Ermunterung durch die Seelsorger der Kirche dazu befreit worden.

 

Nordwestlich von Bischkek, im Dorf Winogradnoje, ist das »Haus des Erbarmens«, das kleine Altenheim der Kirche, in dem sechs Frauen und zwei Männer wohnen. Im Vergleich zu den Lebensbedingungen in ihren Häusern, die sie nicht mehr verwalten konnten, ist das Leben dort bald wie im Himmelreich. In einem Dreibettzimmer, in zwei Zweibettzimmern wohnen sie. Nur eine Dame, völlig hinfällig und pflegebedürftig, hat ein Zimmer für sich allein. Ich spüre nur Dankbarkeit für diese Möglichkeit, die auch im gemeinsamen Gebet mit den Frauen im Dreibettzimmer zum Ausdruck kommt. Und am Tag danach, am ersten Sonntag, den ich in Kirgistan erlebe, begegne ich zwei der Frauen im Gottesdienst wieder – erneut eine Wiederbegegnung, obwohl ich das erste Mal zum Gottesdienst in Winogradnoje bin.

 

Wir kommen nach einer fast eintägigen Autofahrt in Mailuusuu an, gefahren durch den Tunnel am Töö-Ashuu-Pass, 3180 Meter hoch, durch das Suusamyr-Tal (2500 m) über den Ala-Bel-Pass (3175 m), um den Toktogul-See herum, den Fluss Naryn hinunter und dann wieder hinauf nach Mailuusuu. Diese Stadt ist so etwas wie das Ende der Welt. Oberhalb der Stadt wurde früher Uran abgebaut. Eine richtige Versorgung der Gruben steht noch aus, die Umwelt ist stark gefährdet. Viele Russlanddeutsche und deutsche Kriegsgefangenen waren hier im Einsatz … Eine ganz bewegende Empfindung kommt auf. Vor dem Gemeindehaus gleich an der Hauptstraße des Städtchens stehen aber wieder Bekannte – die Jugendlichen, die ich vom Sommerlager her schon kenne. Und der zweite, der mich begrüßt, ist der 17-jährige Artjom Igorewitsch Manakow, der im Gottesdienst getauft werden soll. Seine Eltern sind auch dabei. Die Familie kommt aus baptistischem Zusammenhang, aber der junge Mann will sich bewusst in unserer evangelisch-lutherischen Kirche taufen lassen. Bischof Eichholz führt diese Tauffeier ganz bezogen auf ihn als Person und zugleich bezogen auf unsere evangelisch-lutherische Tradition durch. Es ist klar, dass er nun vollgültiges Glied der Kirche und der Gemeinde mit allen Rechten ist. Eine Konfirmation wird nicht mehr nötig sein. In meiner Predigt zum Monatsspruch aus Matthäus 7,7 – »Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan« – habe ich den Täufling angesprochen: »Die Wahrheit dieses Wortes wirst Du zuerst in der Gemeinschaft der Kirche erleben. Dort werden sich die anderen Gemeindeglieder Deinen Bitten und Anliegen öffnen und für Dich da sein. Und Du wirst diese Wahrheit in grundlegender Weise in Deinem Leben erleben, denn das zweite Gegenüber ist Gott selbst. Gott tut nichts, als darauf zu warten, dass Du – dass wir alle – ihn bitten, bei ihm suchen, bei ihm anklopfen wirst!«

 

Und dann, um Usbekistan herumfahrend und Jalal-Abad erst einmal links liegen lassend, kommen wir nach Osch und besuchen dort die kleine Gemeinde mit ihrem Pfarrer. Noch sind viele Spuren des Gewaltausbruches vor einem Jahr in den Straßen zu sehen. Aber das nahe Umfeld des Gemeindehauses wirkt friedlich. Direkte Nachbarn sind Geschäftsleute mit einem kleinen Laden. Ich gehe auf die Besitzer zu und sage, dass ich Besucher der Gemeinde nebenan bin. Ich spüre eine sehr gute Nachbarschaft zwischen der muslimischen Händlerfamilie und der Gemeinde und ihrem Pfarrer. Der Besuch auf dem Gemeindegrundstück wirkt auf mich wie die Erfüllung der großen Hoffnung, die im Buch des Propheten Micha enthalten ist: »Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des Herrn Zebaoth hat’s geredet« (Micha 4,4). So sitzen wir im Hof des Gemeindehauses, und vom über uns wachsenden Weinstock werden die großen Trauben geerntet – und alle essen von ihnen!

 

Nach dem Gottesdienst besuchen wir eine kranke, alte Frau, die zur Gemeinde gehört. Sie ist 81 Jahre alt und wohnt zusammen mit ihrem Mann in einem kleinen Haus mit Hof und Garten. Sie hatte wohl einen Gehirnschlag und leidet unter Schmerzen. Aber eine genaue Diagnose kennt das Ehepaar nicht – in dieser Gegend gibt es keinen Arzt. Der Mann zeigt uns stolz selbst gezogene große Gurken an den fast zwei Meter hochgezogenen Gurkenpflanzen. Das Haus selbst ist ganz einfach. Wir sprechen der alten Frau, die auf einer Bank im Hof des Hauses sitzt, Mut zu. Sie entscheidet sich im Gespräch mit Bischof Eichholz für die deutsche Sprache. Sie fragt extra nach mir, weil ich aus dem engen Gesichtsfeld, das sie noch hat, herausgetreten war: »Der deutsche Mann – ist der noch da?« Wir sind uns als Menschen – noch nie vorher einander begegnet, noch nie gesehen, noch nie voneinander gewusst – doch nahe. Nahe gemeinsam vor Gott: Bischof Eichholz fragt: »Können Sie vergeben und versöhnt in die Zukunft Gottes gehen?« »Ja, ich vergebe allen; ich habe allen vergeben!« – das ist die Antwort. Für dieses Leben das Hoffnungs­vollste, was es geben kann. Für jedes Leben, für uns alle das Hoffnungsvollste, das es geben kann.

 

Mit diesem Wort nehme ich Abschied von den Gemeinden in Kirgistan: »Vergebung soll das letzte Wort sein!« Möge Gott die Kirche, die Gemeinden und jede einzelne Schwester und jeden einzelnen Bruder segnen! Möge er den Dienst des Bischofs, der Pfarrer und Prediger, der Mitarbeitenden in den verschiedensten Bereichen segnen! Möge er der Kirche Zukunft schenken!

 

Mit diesen Wünschen bin ich dann wieder nach Erlangen in die Zentrale des Martin-Luther-Bundes zurückgefahren. Bei einer Besprechung mit allen Mitarbeitenden im Jugendlager am Issyk-Kul hatte Bischof Eichholz skizziert, was der Martin-Luther-Bund in den letzten Jahren für die Kirche in Kirgistan getan hat. Und wir werden auch weiterhin als treuer Partner an der Seite dieser Kirche stehen. Darum bitte ich alle unsere Freunde, alle unsere Vereine um aktive Mitarbeit und Hilfe.

 

Dr. Rainer Stahl ist Generalsekretär des Martin-Luther-Bundes.

 

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 4/2011. Wenn Sie die weiteren Artikel lesen möchten, z.B. über die lettische Kirchenzeitung »Svētdienas Rīts«, über den Internationalen Sprachkurs des Martin-Luther-Bundes in Erlangen, über die diakonische Arbeit in Šakiai in Litauen oder über ein Treffen russischer und deutscher Motorradfahrer mit Bundespräsident Christian Wulff in Berlin, bestellen Sie den » Lutherischen Dienst kostenlos.