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Aktuelle Meldung11.03.2011 - Kategorie: LD online, Serbien
LD online: Nicht nur zur Weihnachtszeit …Stille Nacht im »Stall von Zemun«
Der ehemalige Bremer Krankenhauspfarrer Dieter Tunkel betreut seit 2007 die Evangelisch-Lutherische Gemeinde in Belgrad.
Bericht von Winfried Schwarz
Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 1/2011 Wenn sich am Heiligen Abend hierzulande die Menschen in Scharen zu den vielen christlichen Gottesdiensten aufmachen und in gut temperierten, weihnachtlich geschmückten Kirchen die Geburt Christi feiern, sind in Belgrad gut zwei bis drei Dutzend deutschsprachige evangelische Christen unterwegs zu ihrer Kirche. Auch sie halten Gottesdienst – eingeladen von ihrem Seelsorger, dem früheren evangelischen Krankenhauspfarrer von Bremen-Nord, Dieter Tunkel, seit 2007 deutscher Auslandsseelsorger in der serbischen Hauptstadt.
Zum vierten Mal bereitete sich Pastor Tunkel auf ein Weihnachtsfest, gut 1600 Kilometer von seiner früheren Wirkungsstätte entfernt, vor. Längst ist der 68-Jährige auf dem Boden der Realität angekommen und weiß, dass sich sein Gottesdienst zwar inhaltlich in nichts von dem in seiner Heimat unterscheidet, er aber in einem Land lebt und arbeitet, in dem die orthodoxen Christen die überwältigende Mehrheit bilden. Und die feiern Weihnachten nicht vom 24. bis 26. Dezember, sondern erst am 6. und 7. Januar. Von Markt und Straßen, die verlassen stehen, und still erleuchteten Häusern, die Joseph von Eichendorff in seinem Gedicht beschreibt, keine Spur. Das Großstadtleben pulsiert, doch ohne westlichen Kaufrummel und auch mit viel weniger Lichterglanz als z.B. in Deutschland. Dass die westliche Welt Weihnachten feiert, merkt man nur daran, dass die so genannten Gastarbeiter und Menschen mit serbischen Wurzeln aus Deutschland, Österreich und Italien in die Heimat gekommen sind. Sie stecken noch in den Vorbereitungen ihrer Familienfeste. Mittendrin die wenigen katholischen und evangelischen Christen aus westlichen Ländern oder mit kroatischer oder slowakischer Abstammung, die es gewohnt sind, Weihnachten bei geöffneten Läden und arbeitenden Betrieben zu feiern.
Und so kommen sie, die Nachkommen der Donauschwaben und Reichsdeutschen, die in Belgrad ansässigen Diplomaten, Mitarbeiter der deutschen Botschaft und deutscher und österreichischer Firmen, zur deutschen evangelischen Kirche im Stadtteil Zemun, wo auch 2010 ihr Weihnachtsgottesdienst vorbereitet ist. Doch wer jetzt glaubt, dort ein Gotteshaus nach hiesigen Vorstellungen zu finden, wird so schockiert sein, wie Dieter Tunkel vor drei Jahren beim ersten Besuch seiner Kirche. Äußerlich ein Rundbau mit Kuppel und Eingangstür, hinter der man nichts Schlechtes ahnt. Doch dann: ein nackter und kahler Innenraum, in der Rundung des Hauses eingebaute Sitzgruppen mit einer großen verdreckten Freifläche in der Mitte. Dort, wo man den Altar vermutet, eine Bar, an der aber auch schon lange kein Gast mehr gesessen haben dürfte. Und der Blick in die Kuppel wird durch eine verspeckte Holzverschalung verwehrt – das Tonnengewölbe schluckt zu viel Energie und wurde kurzerhand von innen »zugenagelt«. Eine Seitenkapelle ist nur noch Abstellfläche für alles, was den eigentlichen Nutzern des Hauses im Wege steht – ebenso der Tisch, der Pastor Tunkel als Altar dient, und das kleine Lesepult, von dem aus das Lukasevangelium von der Geburt Christi verlesen werden soll. Das Licht ist spärlich und kommt nur von einigen Glühlampen an losen Drähten unter der Decke.
Rückblende: Es war das Jahr 1927, als deutsche evangelische Christen die Kirche unter großem Opferaufwand erbauten. Als deutsches Eigentum wurde sie 1944 beschlagnahmt. Die Kommunisten nutzten sie als Parteibüro und tauschten auf der Kuppel das Kreuz mit einem roten Stern. Später zog ein Wettbüro ein, gefolgt von einer Galerie und schließlich einem Nachtclub, der das Gotteshaus als Tanzbar nutzte und auch den Altar gegen die Bar tauschte. Und seit einigen Jahren üben an sechs Tagen in der Woche Tanzgruppen ihre Formationen, obwohl die serbische Regierung im Dezember 2005 die Kirche zum Denkmal erhoben und verfügt hat, dass sie nur sakralen Zwecken vorbehalten sein soll. Tunkel: »Papier ist geduldig.«
Nach dem bestehenden Restitutionsgesetz Serbiens für die Kirchen wurde die Rückübertragung auch dieser Kirche beantragt, berichtet der Seelsorger. Der Antrag wurde abgelehnt. Tunkel: »Nichts geschieht. Der Ministerpräsident des Landes ist informiert, die um Vermittlung gebetene Serbische Orthodoxe Kirche schweigt.« Schon mehrfach hat man in seiner Gemeinde über eine Klage beraten. Man arrangiert sich mit den Tanzgruppen, die Verständnis für die gottesdienstliche Nutzung des Raumes an Sonntagen und eben auch an Weihnachten haben, denn schließlich ist auch ihnen dieser Raum für die Ausübung ihres Sports zugewiesen worden. Ihre eigentliche Übungsstätte wurde ihnen von den Behörden weggenommen.
Und so steht Dieter Tunkel mit Tränen in den Augen in dem Raum, in dem er die frohe Botschaft von Weihnachten zu verkünden hat. »Voll Wehmut denke ich an die vielen Kirchen in Bremen und Bremen-Nord. Alle sind gut erhalten.« Und dann sagt er: »Jesus ist auch in einem Stall geboren worden.«
Diesen »Stall von Zemun« wird Tunkel mit freiwilligen Helfern nun wieder einmal zu einem weihnachtlichen Gottesdienstraum für wenige Stunden herrichten. Da ist zunächst die Bestuhlung. Mit Hilfe der deutschen Niederlassung eines Autoherstellers werden Stühle herangekarrt, der wackelige Tisch aus der Abstellkammer mit einer weihnachtlichen Tischdecke, zwei Kerzen und einem Kreuz zu einem Altar geschmückt. Ein alter Barhocker muss her, um das karge Gebinde aus Tannenzweigen in eine Höhe zu bringen, die über den Altar reicht. Einen Weihnachtsbaum gibt es nicht. Die werden erst kurz vor dem orthodoxen Fest zum Kauf angeboten.
Heiligabend erklingen sie: die Weihnachtslieder aus dem deutschen evangelischen Gesangbuch zur spärlichen Begleitung von elektronischen Orgeltönen. Die spielt in diesem Jahr der slowakische evangelische Pfarrer – der sonst ehrenamtlich tätige Organist will die Festtage in Deutschland verbringen. Seine Aushilfe kennt sich aus mit den deutschen Liedern – er hat in Deutschland studiert und bringt zum Gottesdienst in Zemun seine Gemeinde gleich mit. (Anm. d. Red.: Der Orgelspieler und zugleich Mitzelebrant im Gottesdienst ist Pfarrer Vladislav Iviciak. Er ist Pfarrer der Slowakischen Evangelischen A.B. Kirche in Serbien, war Teilnehmer des Internationalen Sprachkurses des Martin-Luther-Bundes 2001 und lebte anschließend als Theologiestudent mit einem Stipendium des DNK/LWB im Auslands- und Diasporatheologenwohnheim des Martin-Luther-Bundes.) Tunkel: »Wir feiern Weihnachten zusammen mit der slowakischen Gemeinde, die sich unserer Liturgie anschließt. An den Festtagen sind viele nach Belgrad entsandte Mitarbeiter der Botschaft oder aus Unternehmen bei ihren Familien in Deutschland oder Amerika. Der slowakische Pfarrer kennt unsere Liturgie, kann meine Predigt bei Bedarf ins Serbische oder Englische übersetzen. Man weiß ja nie, wer überraschend zu uns kommt«, so Pastor Tunkel, der wehmütig anfügt: »Ab Mai 2011 haben wir keinen Organisten mehr und müssen die Kirchenlieder a cappella singen.«
Zurück zum »Stall von Zemun«: Wie Maria und Josef an der Krippe müssen sich die Gottesdienstbesucher warm anziehen und vor der Kälte schützen. Die elektrische Gebläse-Heizung kann nur während des Gesanges und Orgelspiels in Betrieb bleiben – Predigt und Gebete würde man sonst nicht hören können. Daher wünscht sich Pastor Tunkel, dass sich deutsche Gemeinden der finanziellen Not seiner Gemeinde erinnern und ihm die eine oder andere Kollekte zur Verfügung stellen. Zwei kleine Gasöfen oder eine kleine transportable Verstärker-Anlage für die Schwerhörigen könnten aus dem »Stall von Zemun« schon fast eine Kirche machen.
Von Kollekten ihrer eigenen Mitglieder kann die Gemeinde nicht leben. Rentner bekommen gerade mal umgerechnet 70 Euro im Monat, ein aktiver Lehrer bringt es höchstens auf 400 Euro.
Trotz dieser vielen Widrigkeiten: Dieter Tunkel ist gern als Auslandspastor in Belgrad tätig und bei den Menschen seiner Gemeinde, zu der neben dem Stadtgebiet von Belgrad der ganze nördliche Teil Serbiens, die Vojvodina, gehört. Dennoch: Anfangs wollte er schon nach vier Monaten alles hinwerfen. Tunkel erinnert sich: »In meinem ersten Gottesdienst sagte ich: ›Ich bleibe, bis die Kirche in Serbien und die Kirchengemeinde von Belgrad wiedergegründet und die Kirche in Zemun zurückgegeben worden ist.‹ Erst später habe ich verstanden, dass auf dem Balkan alles anders und langsamer geht, als ich es von Deutschland gewohnt bin. Die Kontaktaufnahme war mühselig, die Gemeindemitglieder konnte ich nur per E-Mail kontaktieren und am Sonntag im Gottesdienst sehen. Mir fehlte sehr der persönliche Kontakt, wie ich ihn aus meiner Tätigkeit als Krankenhauspastor in Bremen-Nord kannte. Doch die freundlichen Serben und die hilfsbereiten Slowaken aus der evangelischen Kirche in Serbien, die deutsch sprachen, ließen mich bleiben.«
Und was macht er alleine in einer möblierten Wohnung mitten in Belgrad nach seinen gottesdienstlichen Pflichten? Tunkel: »Nach der Christvesper werde ich eine ältere Frau besuchen, die vor 35 Jahren der Liebe wegen aus Deutschland nach Belgrad zog und nun als Witwe in einem der großen Wohnblocks in Neu-Belgrad lebt. Nach dem Gottesdienst in der slowakischen Gemeinde, in der ich auf Deutsch predigen werde, habe ich serbische und slowakische Freunde zum Essen in ein nettes Belgrader Restaurant eingeladen.«
Bei der Gemeindearbeit und den Gängen zu Ämtern und Behörden sind dem 68-Jährigen deutsch sprechende Serben behilflich. Deren Unterstützung weiß er zu schätzen, denn vieles braucht sehr lange. So wartet der deutsche Seelsorger fast drei Jahre nach seinem Dienstantritt noch immer auf einen Termin beim Religionsminister.
Was Dieter Tunkel sehr verwundert: Serben ungarischer, slowakischer und kroatischer Abstammung bezeichnen sich nicht als Serben, sondern als Ungarn, Slowaken oder Kroaten, auch wenn ihre Vorfahren schon vor Jahrhunderten im Land wohnten. Und auch die Serben betonen den Unterschied zwischen denen, die aus dem Banat, aus Belgrad und Umgebung kommen, und denen, die aus Südserbien oder Bosnien kommen.
Damit ist Tunkel bei einem Kapitel, das noch heute in jedem Reiseführer für Serbien angesprochen wird. Es sind die ethnischen Spannungen, die innerhalb des serbischen Landes Bestand haben und für deren endliche Lösung auch an Weihnachten 2010 gebetet wird – auch im »Stall von Zemun«.
Wir übernahmen den Beitrag aus der Zeitung »Die Norddeutsche« mit freundlicher Genehmigung durch den Autor Winfried Schwarz. Schwarz ist Kirchenmusiker und Journalist des »WeserKuriers«. Er kennt Pfarrer Dieter Tunkel aus seiner Zeit als Bremer Krankenhauspfarrer und setzt sich seit Jahren für Gemeinden in der Diaspora ein. Im Oktober 2011 wird Winfried Schwarz Chorkonzerte u.a. in der Belgrader Gemeinde und in der Kirche Köbánya/Budapest geben.
Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 1/2011. Wenn Sie die weiteren Artikel lesen möchten, z.B. über die evangelisch-lutherische Kirche in Irland, über die 100 Jahre alte Christuskirche in Windhoek/Namibia oder über das ungarische Mediengesetz, bestellen Sie den » Lutherischen Dienst kostenlos. |