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Aktuelle Meldung



14.09.2015 - Kategorie: Ungarn

UNGARN: Marsch der Flüchtlinge – die Kirche mitten in der europäischen Flüchtlingskrise




Wir zitieren aus einem Schreiben von Bischof Dr. Tamás Fabiny, in dem er seine Gedanken zur Herausforderung des Septembers 2015 niedergelegt hat:



In diesem Schreiben werde ich über ein ergreifendes Wochenende berichten, als sich Tausende von Flüchtlingen zu Fuß nach Österreich aufgemacht haben, die schließlich mit Bussen über die Grenze kamen, die ihnen die ungarische Regierung zur Verfügung gestellt hat.

 

Diesen Zug werde ich nie vergessen. Mir ist bewusst, dass die Flüchtlinge den Verkehr behinderten und gegen zahlreiche Verkehrs- und sonstige Regeln verstießen. Aber an diesem Zug spürte ich eine letzte Verzweiflung. Der unermüdliche Marsch vermittelte ein »Es-ist-alles-egal«-Gefühl, das von Kriegsleiden, Verfolgung und Ausgeliefertsein genährt wurde, die diese Menschen hinter sich gelassen hatten. Und, seien wir uns gegenüber ehrlich, die Herzlosigkeit, die sie häufig von einigen von uns erfahren mussten.

 

Ich kann diesen Zug nicht vergessen. In den USA der 60er Jahre zog Martin Luther King auf eine ähnliche Art auf Großstadtstraßen und führte Menschenmassen an. Die südafrikanischen Gegner der Apartheid sangen: »We are marching in the light of God« – »Wir marschieren in Gottes Licht«. Der Anblick der Menschen, die auf der Autobahn in Ungarn wanderten, erinnerte mich auch an die wandernden – man könnte auch sagen, einwandernden – Juden auf der Suche nach einer neuen Heimat. Dieses Gefühl wurde teilweise inspiriert durch ein Gebet der reformierten Pastorin Sylvia Bukowski, das so beginnt: »Gott der Gnade, der dein Volk durch die Wüste geführt hast und beim Exodus ihr Hirte warst, wir bitten dich um Millionen von Flüchtlingen, die ins Ungewisse gestartet sind, und die von Armut, Verfolgung und Gewalt begleitet werden. Sei du ihr Anführer und Beschützer, Herr!«

 

Unter den Marschierenden gab es Menschen mit einem Bein, die nur dank ihrer Krücken mit den anderen Schritt halten konnten, viele andere trugen ihre Kinder in ihrem Schoß oder auf ihren Schultern. Ein Mann schob seinen kleinen Sohn in einem Einkaufswagen. Ich habe aber auch jemanden gesehen, der einen alten Mann auf seiner Schulter geschleppt hat, ein anderer hielt eine kranke Frau in den Armen.

 

Es gilt auch heute noch: Jesus erbarmt sich der Menschenmenge, weil sie wie Schafe ohne ihren Hirten sind!

 

Gibt es ein Erbarmen in uns? Können wir unsere menschliche Seite nach außen zeigen? Können wir die Worte der Gnade auch dann formulieren, wenn andere meinen, wir müssten ständig Kraft demonstrieren?

 

Überlassen wir die Politik den Politikern, und fragen wir uns als Kirche: Können wir mit einer humanen Stimme sprechen und vor allem glaubwürdig handeln? Als die Leichen von 71 erstickten Menschen – darunter Frauen und Kinder – kurz hinter der ungarisch-österreichisch Grenze im Todes-LKW gefunden wurden, schlug Michael Bünker, lutherischer Bischof in Österreich, vor, die Opfer nach ihrer Identifizierung würdig, nach der Zeremonie ihrer eigenen Religion, zu bestatten. In Ungarn, nahe am Bahnhof von Bicske, brach ein syrischer Mann mittleren Alters zusammen und starb. Wissen wir irgendetwas von ihm? Hat jemand versucht herauszufinden, wer er war und was aus seiner Familie geworden ist?

 

Obwohl die offizielle Berichterstattung in Ungarn konsequent das befremdlich klingende Wort Migrant statt Flüchtling verwendet: Versuchen wir uns dennoch bewusst zu machen, wie traumatisiert diese Menschen aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen mit Krieg und Terror sind? Haben wir überlegt, wie es sich anfühlt, wenn sie bei uns ständig als Sündenbock deklariert werden? Können wir nachvollziehen, was es bedeutet, dass eine Frau ihr Kind auf der Flucht auf die Welt gebracht hat und fünf Tage nach der Geburt die Familie am Bahnhof übernachten musste? Wenn wir an Weihnachten herzzerreißende Predigten über die heilige Familie predigen oder uns Predigten anhören, rufen wir uns diese Familie in unsere Erinnerung â€¦

 

Dennoch hat sich etwas verändert. Immer mehr Menschen ringen sich dazu durch, das Gefühl der Solidarität mit den Flüchtlingen öffentlich zu verkünden. Man hat das Gefühl, dass die negativen Gefühle und das Misstrauen seltener werden und immer mehr Menschen nach Möglichkeiten der Hilfeleistung suchen.

 

In diesem traurigen und verzweifelten Schreiben möchte ich auch von Hoffnung und sogar von Freude berichten. Neben schmerzhaften Erlebnissen konnten wir in diesen schwierigen Wochen auch zahlreiche Beispiele für erfinderische Liebe sehen. Viele Anhänger der lutherischen Kirche haben ihre Erfahrungen mit anderen geteilt und praktische Ratschläge im Internet weitergegeben. Neben der spontanen Hilfeleistung organisiert der diakonische Dienst unserer Kirche die Arbeit bewusst und überzeugt, nicht minder die Ökumenische Hilfsorganisation, die mittlerweile auf eine mehrere Jahrzehnte lange Tätigkeit zurückblicken kann. Gymnasiasten erkundigen sich, wie sie helfen könnten, Studierende stellen sich als Dolmetscher zur Verfügung, und Kirchengemeinden sammeln Spenden. Wir erhalten Anfragen von zahlreichen Partnern aus aller Welt, wie sie helfen könnten.

 

Jeder kann etwas dazu beitragen, das immer mehr Menschen in unserem Land auf die Leiden der Flüchtlinge aufmerksam werden, und dass die Menschen, die einigen als Masse vielleicht erschreckend und furchterregend erscheinen, endlich ein eigenes Gesicht bekommen. Dafür, dass ihre persönliche Geschichte bekannt wird. Und vor allem dafür, dass sie ihre menschliche Würde zurückbekommen.

 

Ich erfahre, dass immer mehr Menschen in Ungarn langsam verständnisvoller werden. Vielleicht können wir unser reineres Gesicht zeigen. Wie der ungarische Dichter Attila József formuliert: »Nehmt eure wahre Seele, die ihr tief verschlossen habt, damit sie nicht von der Arbeit beschmutzt wird, endlich hervor, und zieht sie [die Lehren] an«.

 

Ich weiß, dass man viel über Schengen-Grenzen und Quoten, über Registrierung, Hot Spots und Ähnliches sprechen könnte. Das sind tatsächlich ernste Fragen. Jeder hat seine Zuständigkeit. Aber egal, wo wir stehen, dürfen wir das Wichtigste, die Ausübung der Gnade, nicht vergessen.

Bischof Dr. Tamás Fabiny