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Aktuelle Meldung



27.02.2006 - Kategorie: LD online, Tschechien

LD ONLINE: Wunder und Wirklichkeit




Die Diakonie in Schlesien

 

von Jana Adameová

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 1/2006



LD 1/2006

Impressionen aus der Schlesischen Diakonie – Fotos: Schlesische Diakonie

 

 

Der heute zu Tschechien gehörende Teil des dem alten habsburgischen Kronlandes Österreichisch-Schlesien zugehörigen Herzogtums Teschen erstreckt sich auf einem etwa hundert Kilometer langen und stellenweise nur dreißig Kilometer breiten Streifen entlang der Olsa. Seit 1920 – mit Ausnahme der Jahre 1938 bis 1945 – bildet der Fluß die Grenze zwischen zwei Staaten: am rechten Ufer der Olsa liegt das polnische Cieszyn, das auch das alte Stadtzentrum umfaßt, links der Olsa Český Těšín. Auch die Grenze zur Slowakei ist nicht weit. Hier leben Menschen, die sich im Laufe ihres Lebens in immer wieder neuen Staaten wiederfanden. Sie lebten unter österreichisch-ungarischer, polnischer, deutscher, tschechoslowakischer Herrschaft und erlebten und erlitten in dieser Region die wechselvolle europäische Geschichte hautnah.

 

 

Karol Kulisz – ein Prophet und Märtyrer

 

Die Geschichte der Schlesischen Diakonie geht zurück auf die Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie im 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit waren die diakonischen Aktivitäten sehr eng mit der Gemeindearbeit verbunden.
Die ersten Kinderheime wurden von den Sonntagskollekten gefördert, und die Arbeit wurde ehrenamtlich geleistet. Die erste Diakonissengemeinschaft wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet. Ihr Leiter war Pastor Karol Kulisz, der 1908 das Holzhaus in Komorní Lhotka mietete, das später zum Altenheim umgebaut und Keimzelle der Diakonie in Schlesien wurde. Karol Kulisz wurde als fünftes Kind seiner Eltern Adam und Eva in Dziegielów, im heute polnischen Teil des Teschener Schlesien, geboren. Die Familie lebte sozial unter schweren Bedingungen. Aber sie war tief fromm und lebte im Vertrauen auf Gottes Leitung und Schutz. 1939 wurde Karol Kulisz verhaftet und interniert, verhört und mißhandelt. 1940 starb er im Konzentrationslager Buchenwald als Märtyrer. Seine Predigten hatten für seine Gemeinde prophetischen Charakter, er rief eine große Erweckungsbewegung im Teschener Schlesien hervor und wurde zum Gründer der dortigen Inneren Mission und Diakonie.

 

Während des Zweiten Weltkriegs wurden unter deutscher Herrschaft die diakonischen Heime zerstört, und in der Zeit des Kommunismus wurde in der damaligen Tschechoslowakei ca. 98 % des kirchlichen Eigentums verstaatlicht. Die Diakonie als Lebensäußerung der Kirche existierte nicht mehr. Die Gemeindearbeit wurde rigoroser staatlicher Kontrolle unterworfen.

 

 

Wladyslaw Santarius – Mit Charisma und Leidenschaft

 

Der junge Pfarrer Wladyslaw Santarius war Theologe der Erweckung. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm er die Führung der Evangelisationsbewegung seiner Kirche. Alle, die damals davon beeinflußt wurden, zählen heute an vielen Orten zum lebendigen Kern ihrer Gemeinde. Er war ein begnadeter Prediger und schuf an vielen Orten lebendige Gemeinden. Unvermeidlich geriet er in Konflikt mit den Herrschenden seiner Zeit. Er wurde seines Amtes enthoben und mußte einem Beruf außerhalb der Kirche nachgehen. Seine Vision von einer freien Gesellschaft erhielt er sich, hat aber die Befreiung nicht mehr erlebt. Seine Hingabe für die Schwachen und Kranken in der Gesellschaft ließ ihn nicht los. Er leitete die diakonischen Anstalten in Komorní Lhotka bis zur Verstaatlichung und lebt in der Erinnerung seiner Kirche und der Diakonie bis heute.

 

 

Nach der Wende – von »Null« anfangen

 

Nach dem Zusammenbruch des alten politischen Systems im Jahre 1989 gewann der diakonische Auftrag im tschechischen Schlesien wieder eine äußere Gestalt, die Idee von der christlichen sozialen Arbeit wurde quasi neu geboren, und es entstanden konkreten Organisationen mit eigenem Management. Nach der Wende haben auch die internationalen Beziehungen eine besondere Rolle bei der Entwicklung der Schlesischen Diakonie gespielt. Besonders aus Deutschland kam Hilfe. 1990 wurde ein Statut erarbeitet, im November 1990 wurde die Schlesische Diakonie als Verein registriert und 1997 in die kirchliche Organisation eingegliedert. Im Vergleich zu der Entwicklung der Diakonischen Werke in anderen europäischen postkommunistischen Ländern mußte die Schlesische Diakonie nach der Veränderung des politischen Regimes aber in jeder Hinsicht am Nullpunkt anfangen.

 

 

Herausforderungen der Gegenwart – Diakonie und Mission

 

Zur Zeit gibt es in der Schlesischen Diakonie 40 Heime, und die Organisation hat ungefähr 380 Mitarbeiter. Es werden Dienste für Kinder, Jugendliche mit Behinderungen, Senioren, Arbeitslose, Obdachlose, sozial benachteiligte Kinder und Opfer von Gewalt angeboten. Bis 2005 arbeitete die Diakonie regional begrenzt, inzwischen wurde eine erste überregionale Einrichtung in Brno gegründet, und demnächst soll dies auch in Prag geschehen. Die Schlesischen Diakonie will mit ihrer Arbeit missionarisch tätig sein und so in die tschechischen Gesellschaft hineinwirken.

 

 

Markt und Profit – Diakonie im Wandel

 

Heute gehört die Diakonie in Schlesien zu den sogenannten »Nichtregierungsorganisationen« in der Tschechischen Republik. Sie ist nicht staatlich, muß sich an ökonomischen Zielen orientieren und arbeitet als Mittlerin zwischen Bürgern und Politik. Die Diakonie als Organisation ist gezwungen, sich auf dem Markt in einer neoliberalen Atmosphäre zu behaupten. Alles, was keinen Profit bringt, ist Verlust. Zur magischen Formel ist der Begriff der »Dezentralisierung« geworden, denn der Staat verlagert verstärkt Kompetenzen auf Nichtregierungsorganisationen, auch wenn bislang noch die meisten sozialen Dienste vom Staat geleistet werden. Einige Kirchen konnten nach der Wende im Jahre 1989 ihre sozialen Aktivitäten durch die Rückgabe kirchlichen Eigentums schnell wieder aufnehmen. Die tschechische Gesellschaft gehörte zu den Gesellschaften in Europa, die stark durch den Atheismus geprägt ist, weshalb die kirchlichen Organisationen von der Regierung und von der Öffentlichkeit nur zögerlich Unterstützung erfuhren. Langsam jedoch ändert sich die Lage, besonders dann, wenn die kirchlichen Organisationen ihre sozialen Dienste mit höherer Qualität anbieten können. Durch ihr Angebot, das den Bedürfnissen der Gesellschaft entgegenkommt, dem neuen Umgang mit den Klienten und durch ihre hohe Qualität genießen sie einen guten Ruf bei der lokalen Regierung und in der Öffentlichkeit. Nicht zuletzt ist dadurch auch die Finanzierung der Dienste stabiler geworden. Im Oktober 2004 wurde das alte Gesetz, welches das Wirken der sozialen Dienste regelt, durch den Gesetzgeber neu gefaßt. Das neue Gesetz soll 2007 in Kraft treten. Das Hauptziel ist dabei, die Rahmenbedingungen der modernen sozialen Politik neu zu fassen und die soziale Integration zu fördern.

 

 

Partner im Ausland – In Europa zusammen auf dem Weg

 

Von Anfang an war die internationale Zusammenarbeit für die Diakonie von großer Bedeutung. Sehr hilfreich war z.B. am Anfang die methodische Anleitung bei der Einführung der neuen sozialen Dienste. Nach dem Eintritt der Tschechischen Republik in die Europäische Union werden die ausländischen Partnerschaften durch gemeinsame Projekte auf europäischer Ebene noch verstärkt. Im Mittelpunkt der Kooperation mit dem Ausland steht der gegenseitige Austausch von Kenntnissen und Erfahrungen im Bereich der sozialen Dienste. Die Organisation ist an der Zusammenarbeit mit den europäischen Dachorganisationen sehr aktiv beteiligt. Neues zu entdecken, Fremdsprachen zu lernen, andere Leute kennen zu lernen, fremde Kultur zu erleben, etwas Sinnvolles zu tun – das sind Stichworte des Programms der internationalen freiwilligen Dienste, die bei der Diakonie seit November 2004 läuft. Das Programm umfaßt Aufnahme und Entsendung der Jugendlichen, die bereit sind, für ein Jahr in den diakonischen Einrichtungen in einem fremden Land zu dienen. Zur Zeit sind in den diakonischen Einrichtungen fünf Freiwillige, die aus der Slowakei, Dänemark, Israel und den Niederlanden kommen. Die Diakonie hat ihre Partner in Europa, Amerika und Afrika.

 

 

Neuigkeiten und Visionen

 

Am Anfang des Jahres wurde die Tagesstätte »Tabita« für Senioren und Menschen mit Behinderungen in Jablunkov eröffnet. In einem Internet-Café in Ostrava geht es darum, den Senioren einen besseren Zugang zu Informationen zu verschaffen und ihre Einbindung in das gesellschaftliche Leben zu fördern. Für die sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen wurde eine neue, niedrigschwellige Einrichtung in Bohumín eröffnet. Erstmals wurde die Diakonie auch überregional in Brno aktiv. Schließlich darf nicht vergessen werden, daß das Diakonische Institut im Herbst 2005 in Ostrava eröffnet wurde. Der Schwerpunkt des Instituts liegt auf Ausbildung und Beratung in den Bereichen »Soziales Management«, »Ökonomie« und »Projektmanagement« – sowohl für die Mitarbeiter der Schlesischen Diakonie als auch die anderer Nichtregierungsorganisationen in der Region.

 

Die Visionen der Schlesischen Diakonie für die Zukunft sind sowohl auf die Erhöhung der Qualität der jetzigen sozialen Dienste als auch auf die Erweiterung von neuen Einrichtungen gerichtet. Ganz besonders geht es dabei um die Weiterbildung, auch z.B. für diakonische Mitarbeiter der Partner in der Ukraine oder in den Staaten des früheren Jugoslawien. Neue Einrichtungen soll es zukünftig auch in Prag geben. Außerdem soll ein Qualitätssicherungssystem eingeführt werden, das die nationalen und internationalen Standards der einzelnen Einrichtungen prüfend im Auge behält.

 

Zum Schluß bleibt mir nur, mich herzlich zu bedanken. Wir danken Gott für Seine Gnade und Seinen Segen für das Diakonische Werk unserer Kirche. Möge Er alle erhalten, die ihre Arbeit mit dem Herzen und mit kräftigen Händen tun, möge Er alle segnen, die uns auf diesem Weg gefördert haben. Unser Wunsch ist, daß die Diakonie als Zeichen des Reiches Gottes auf dieser Erde weiter wächst.

 

Jana Adameová ist Leiterin der Abteilung für ausländische Kooperation in der Schlesische Diakonie.

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 1/2006. Wenn Sie die weiteren Artikel – etwa über die »Lebendige Partnerschaft« zwischen dem MLB und der »Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien«, über die theologische Fortbildung in Baschkirien oder ein Interview mit dem neuen Geschäftsführer des »Ausschusses für Kirchliche Zusammenarbeit« beim DNK/LWB, Dr. Andreas Wöhle – lesen möchten, bestellen Sie den »Lutherischen Dienst« kostenlos.