Das Diasporawerk der VELKD  
LD online Projekte/LänderProgrammeWohnheimVerlagÜber unsService Vereine
Suche   Sie sind hier: www.martin-luther-bund.de · Aktuell Druckversion

Aktuelle Meldung



12.09.2011 - Kategorie: ELKRAS, LD online

LD online: Ukraine – »Gebiet am Rand«




Eindrücke einer Reise des Martin-Luther-Bundes im Mai 2011

 

von Andreas Rothe

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 3/2011



LD 3/2011

Blick auf das berühmte Höhlenkloster in Kiew.

Die Reisegruppe des MLB im Michaeliskloster in Kiew

Auch die bildende Kunst beschäftigte die Katastrophe von Tschernobyl – hier ein Bild aus dem Museum in Kiew.

Der Altarraum in der St.-Pauls-Kirche in Odessa

»O Großer Gott, Du Einziger, schütze unsere Ukraine« – so sang das ganze Volk in den frühen 90er Jahren. Ukrainisches Nationalbewusstsein soll sich frei entfalten können, blickt es doch auf eine tausendjährige Geschichte zurück. Als man dem Land im 18. Jahrhundert den Namen Kleinrussland aufdrückte, sollte in Vergessenheit geraten, dass Kiew die Mutter der alten Rus war, des mächtigen Reiches im Osten Europas. Vladimir, Fürst von Kiew, hatte sich 988 auf der Krim taufen lassen und noch im selben Jahr die Taufaktion in Kiew angeordnet und dann sein Volk zum christlichen Glauben geführt.

 

Am 24. August 1991 gewann die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Grenzland, Gebiet am Rand – so lässt sich der Name des Landes übersetzen. Internationale Aufmerksamkeit erlangte es zuletzt durch die orangefarbene Revolution im Jahr 2004. Im sensiblen Ungleichgewicht zwischen Westorientierung und Russlandbindung schlug damals das Pendel für die EU. Sechs Jahre später bei den Wahlen 2010 siegte wieder die russlandnahe Partei. In dem zweitgrößten europäischen Land leben 46 Millionen Menschen aus über 130 Nationalitäten. 78 % gehören zur ukrainischen Ethnie.

 

Im Mai 2011 bot der Martin-Luther-Bund die große Chance, die Städte Kiew und Odessa sowie die Halbinsel Krim kennen zu lernen. In das Programm von Lloyd Touristik eingebettet vermittelte Generalsekretär Dr. Rainer Stahl VIP-Gespräche, Gemeindebesuche und Gottesdienste. Die Tage und Wege mit ihm öffneten den Blick für die Schönheiten kirchlicher Kunst, die Stärke christlichen Glaubens und die Lebendigkeit kleiner Gemeinden. Die Reisekosten lagen hoch, der geistige Gewinn jedoch weitaus höher. Dafür sind die 16 Teilnehmer dankbar.

 

 

Freiheit für den, der sich durchsetzen kann

 

Entsprechend dem Reiseweg gab es drei ukrainische Frauen, die mit profunder Kenntnis und mit Lust und Witz durch das Land führten. Sie zeigten, wie frei man heute in dem ehemals sozialistischen Land reden und denken kann. Während die Mindestrente unter 100 EUR pro Monat liegt, Krankenversicherung weithin unbekannt ist und mancher Arbeiter monatelang auf seinen Lohn warten muss, gibt es alle Freiheit für den, der sich durchsetzen kann. Mercedes und Porsche sieht man eher auf der Straße als Rollstuhlfahrer und Blindenhunde. Rücksichtslosigkeit setzt sich mit Chuzpe durch. Auch unser Bus fuhr bei roter Ampel rückwärts über die Kreuzung.

 

Die meisten Ukrainer gehören zu einer der drei orthodoxen Kirchen. Allein das Moskauer Patriarchat erfasst 52 % der Bevölkerung. Das weckt Rivalitätsgefühle. Die Gotteshäuser stehen von morgens bis abends offen. Gläubige zünden betend ihre Kerzen an. Touristen dürfen ohne Zahlung ein Foto schießen. Alte Frauen wischen die Fußböden. Frömmigkeit gehört zum öffentlichen und privaten Leben. Das ist nach 70 Jahren Sozialismus nicht selbstverständlich, bezahlten doch Gläubige ihr Bekenntnis oft mit Gefängnis und Tod. Der Staat missbrauchte die Gotteshäuser und ließ viele von ihnen niederreißen. Nach der Wende schossen sie erneut wie Pilze aus dem Boden. Auf uralten, manchmal tausendjährigen Fundamenten entstanden die alten Kirchen neu. Heute strahlt die Metropole im Glanz unzähliger goldener, blauer und grüner Kirchendächer. Selbst das Baugerüst am Höhlenkloster leuchtet in der Abendsonne golden.

 

 

Tiefverwurzelte Gottesverehrung

 

Manch wertvolle Ikone hängt in staatlichen Museen. So gibt es einen großen Bedarf an neugefertigten, auch einen regen Handel damit. Sie werden noch immer im strengen östlichen Stil geschrieben. Gottesdienstliche Bilder mit biblischer Handlung, wie wir sie im Kiewer Wydubetschi-Kloster fanden, sind nur selten zu sehen. Das zeigt: Andächtige Verehrung Gottes ist tief verwurzelt im Volk – geistige Auseinandersetzung mit den Themen unserer Zeit, also eine theologische Entwicklung, blieb weithin aus. Überrascht hat, dass der letzte Zar Nikolaus II. mit seiner Familie zur Würde der Altäre erhoben wurde. Doch ehrt die orthodoxe Kirche nicht nur Menschen, die ein vorbildliches Leben in der Nachfolge Jesu führten, sondern auch Regenten, die einen ungerechten Tod in christlicher Demut ertrugen. Hoch über allen leuchtet das Antlitz des auferstandenen Herrn und Allherrschers Jesus. Auch für evangelische Christen bildet der Aufblick zu ihm, dessen Bild sich in der Kuppel orthodoxer Kirchen findet, eine Quelle der Kraft.

 

Deutsche leben in der Ukraine schon mehr als eintausend Jahre. Die Kiewer Fürstin Olga bat einst Kaiser Otto I. um die Vermittlung. Acht Jahrhunderte später löste Zarin Katharina II. eine riesige Einwanderungswelle deutscher Siedler aus. Es folgten hundert Jahre mit starkem Wirtschaftswachstum. Seit 1937 führten Stalins restriktive Umsiedlungspolitik und die Kriegswirren zur völligen Vernichtung deutscher Siedlungen. Der Zweite Weltkrieg forderte in der Ukraine insgesamt 6,5 Millionen Todesopfer. Denkmale aus schweren Zeiten führten uns ein in das ukrainische Traumagedächtnis: in Kiew die Erinnerung an den Holodomor – die Hungerkatastrophe unter Stalin, der drei Millionen Menschen erlagen; in Odessa der Obelisk des unbekannten Matrosen, dessen ewige Flamme bewaffnete Schüler im Stechschritt bewachen; in Sevastopol das Krimkriegspanorama, weltweit eines der größten Schlachtenbilder. In Odessa stiegen wir die Potjomkinsche Treppe hinab, auf der 1905 zweitausend Menschen ums Leben kamen. Schlimmer, da kaum ausgesprochen, lastet die Erinnerung an die Ermordung der anderthalb Millionen Juden. Am schwersten traf uns der Besuch des Tschernobylmuseums in Kiew. Unzählige Fotos hilflos kämpfender Männer, verlassener Orte, verstrahlter Kinder, zerstörter Kultur. Multimedial vergegenwärtigt sehen wir die Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 mit ihren Folgen. Da lag auch die Prawda mit der Erstinformation – herausgegeben am 16. Mai 1986, die Rede Gorbatschovs vom 15. Mai dokumentierend. Unfassbar das lange Schweigen.

 

 

Die Katharinenkirche in Kiew – ein festlicher Ort der Begegnung

 

In Kiew begrüßte uns Pfarrer Rolf Haska in der lutherischen Katharinenkirche zum Abendsegen, deren Rekonstruktion die erste künstlerische Leistung von Tobias Kammerer darstellt. Bischof Uland Spahlinger, der leitende Geistliche der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine (DELKU), empfing uns zu einem Mittagsgottesdienst in der St.-Pauls-Kirche in Odessa. Sie bildete seit 1897 mit ihren 1200 Sitzplätzen das geistlich-kulturelle Zentrum der Deutschen in der Millionenstadt am Schwarzen Meer. Nach unendlich erscheinender Leidensgeschichte zerstörte sie ein Brand. Das war 1976. Erst 2010 erstand sie neu mit Hilfe der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, des Martin-Luther-Bundes und des Gustav-Adolf-Werkes. Ein wahrhaft festlicher Ort der Begegnung und der Hoffnung, wieder eine überzeugende Leistung von Tobias Kammerer – bekannt und geachtet von allen Odessiten. Im Haus der Kirche nebenan nahm sich Bischof Spahlinger viel Zeit zum Gespräch. Die lutherische Kirche hat Zukunft, wenn sie nicht allein auf alten Erfahrungen beharrt. Die Not im Land ist groß, und wenige sind bereit, sich selbstlos einzusetzen. Dies fordert einen klugen christlichen Glauben und eine tragfähige Gemeinde. Armut, Alkoholprobleme und Aidserkrankungen bilden eine besondere Herausforderung. Hier auf dem deutschen Hügel in Odessa finden Menschen und Organisationen kompetente Ansprechpartner – und viele auch eine neue geistliche Heimat. Hier in der Novoselskaja 68 werden auch preiswert Gästezimmer angeboten, 30 EUR pro Nacht.

 

Zur DELKU gehören heute 3000 Gemeindeglieder in dreißig Gemeinden, die zwischen 15 und 350 Menschen zählen. In ihr arbeiten 15 Pfarrer: sieben Ukrainer, drei Deutsche, ein Brasilianer, ein Norweger und ein Amerikaner. Die Gottesdienste werden zweisprachig gehalten, wobei das Ukrainische/Russische überwiegt. Deutschstämmige Menschen gibt es noch in vielen Gemeinden, doch kaum jemand konnte die Sprachkenntnisse bewahren.

 

Pastor Aleksander Gross und Diakonin Evgenija – ihre Namen muss man sich merken. In den abgelegenen Steppendörfern Novogradovka und Petrodolinskoje (ehemals Neuburg und Peterstal) schafften sie ein Netzwerk christlicher Bildungs- und Sozialarbeit, das ukraineweit Bedeutung gewinnt und mit Christen vieler Länder verbunden ist. Hier müssen Stichworte reichen: Mission, Jugendzentrum, Bibelschule, Bildungsarbeit, Lektorentage, Englisch-Freizeiten, Gemeindediakonie vor Ort, Alkoholprävention, Organisation im weiten Land, internationale Sommerlager. Dies alles ist so ungewöhnlich wie evangelische Religionsstunden in ukrainischen Schulen. Die Aktion Weihnachten im Schuhkarton öffnete die Tür zu Schülern und Lehrern. In Aleksander und Evgenija gewann für uns die Zukunft ein fröhliches Gesicht.

 

 

Große Geschichte – kleine Geschichtchen

 

Am Dnjeprufer und an der Schwarzmeerküste zwischen Affenschwanz- und Erdbeerbäumen, unter Platanen und Kastanien, in Schlössern und auf nächtlichen Eisenbahnfahrten begegneten wir Menschen mit großer Geschichte und kleinen Geschichtchen: Alexander Puschkin, Anton P. Tschechow und die Dame mit dem Hündchen, Zar Nikolaus und das Dreigespann Roosevelt, Stalin und Churchill in Jalta. Selbst Iphigenie von Tauris sprach zu uns in Goethes Worten. Da standen wir in der antiken Ruinenstadt Chersones. Der Genus loci entlockte unserer Reiseleiterin Ita lange klassische Zitate in deutscher Sprache. Wir dagegen kannten Taras Tschewtschenko noch nicht einmal dem Namen nach.

 

Pfarrer Jörg Mahler und seine Simferopoler Gemeinde freuten sich auf unseren Besuch am Kantatesonntag. Ein kleiner Chor, sechs betagte Frauen, ein Mann, sangen engagiert Psalmen und den Segen. Dr. Stahl predigte und nannte eine der vielen Sprachbrücken: Spasibo – danke – bedeutet etymologisch: Gott möge dich retten. Nach einem fröhlichen Gottesdienst luden uns die dreißig hiesigen Christen zu einer Teezeit ein. Pastor Jörg, wie der junge Bruder hier genannt wird, stammt aus Bayern und arbeitet drei Jahre lang für alle sieben DELKU-Gemeinden auf der Krim. Die Jaltaer Kirche bleibt ihnen allerdings verschlossen. Da nutzt ein ehemaliger Mitarbeiter auch gegen den Einspruch der Kirchenleitung das Gotteshaus für sich.

 

Ein anderes Gefühl vermittelte uns die Gesellschaft der Deutschen in der Ukraine trotz ihrer freundlichen Einladung. Mit ihrem Namen »Wiedergeburt« verband sie vor zwanzig Jahren die Hoffnung auf eine Neuansiedlung Russlanddeutscher in den ehemaligen Dörfern. Ihnen wurden damals neue Häuser gebaut und viel Unterstützung gewährt. Doch zogen sie aus Sibirien und Kasachstan weiter in die Bundesrepublik. Ihre Zeitung trägt den deutschen Titel »Hoffnung«, doch findet sich in ihr nahezu kein einziges deutsches Wort. Warum wohl?

 

Der Ukrainischen Lutherischen Kirche (ULK) ging der Ruf voraus, sie sei so konservativ, dass sie kaum mit Christen anderer Kirchen beten könnte. Bischof Vjatscheslaw Horpynchuk empfing uns sehr freundlich im Wohnzimmer der Gemeinde, das zugleich als Gottesdienstraum dient, und begleitete uns nach einstündigem, intensiven Gespräch bis zum Abschiedswinken am Bus. Es entstand vor unseren Augen das Bild einer Kirche, die an ihre eigenen ukrainischen Traditionen anknüpft und die Initiative von Theodor Zöckler in der Westukraine (im damaligen Ostpolen) aufnimmt und weiterführt. Wir übermittelten Grüße von Bischof Spahlinger.

 

So sind durch diesen Besuch alle drei lutherischen Kirchen im Land in unser Bewusstsein getreten: Die DELKU durch intensive Gemeindebesuche, die ULK durch das schon genannte Gespräch und der »Bund evangelisch-lutherischer Gemeinden« (Viktor Gräfenstein) durch manchen Hinweis. Ob alle drei auch aufeinanderzugehen und Bereiche finden, in denen sie die reformatorische Botschaft gemeinsam vermitteln können? Zu wünschen wäre es, und wir stimmen ein: »O Großer Gott, Du Einziger, schütze unsere Ukraine«.

 

Andreas Rothe ist Pfarrer im Ruhestand und lebt in Torgau.

 

 

Auszug aus dem »Lutherischen Dienst« 3/2011. Wenn Sie die weiteren Artikel lesen möchten, z.B. über die Arbeit einer Pfarrerin in Sibirien, über die Frage »Was ist spezifisch lutherisch?«, über die neue ungarische Verfassung – in einem Interview mit Bischof Péter Gáncs – oder über den Martin-Luther-Bund auf dem Kirchentag in Dresden, bestellen Sie den » Lutherischen Dienst kostenlos.